Parmenides, Heraklit und die Atomisten: Sein und Werden

Parmenides, Heraklit und die Atomisten: Sein und Werden
Parmenides, Heraklit und die Atomisten: Sein und Werden
 
Heraklit aus dem ionischen Ephesos und Parmenides aus dem süditalischen Elea treten durch ihre Gegensätzlichkeit in der vorsokratischen Philosophie hervor: ersterer gilt als Philosoph, der vom Werden und der ständigen Veränderung spricht, letzterer als Vertreter eines unwandelbaren Seins. Dies ist jedoch eine spätere Stilisierung.
 
Von Heraklit sind etwa 130 kurze Fragmente erhalten. Einige dieser Fragmente bestehen nur aus einzelnen Sätzen oder Satzteilen, viele enthalten wohlkomponierte, oft aphoristisch zugespitzte Sinnsprüche. Ob es sich dabei um Teile einer zusammenhängenden Schrift handelt, wissen wir nicht. Schon in der Antike galten Heraklits Ausspüche als sprichwörtlich dunkel, und auch in der modernen Forschung herrschen erhebliche Meinungsverschiedenheiten über den Sinn einzelner Fragmente.
 
Heraklit glaubte sich im Besitz einer allgemeinen, »immer gültigen« Erklärung (»Logos«) für die Vorgänge in der Welt, von der die Menschen allerdings nichts wissen, »sowohl bevor sie den Logos gehört als auch nachdem sie ihn einmal gehört haben«, obwohl sie mit der entsprechenden Gesetzmäßigkeit beständig verkehren: »Da sie hören, ohne zu verstehen, gleichen sie den Tauben. .. Anwesend sind sie abwesend« (Fragment 34). Dieser Logos ist zugleich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit, die das Geschehen im Kosmos lenkt. Obwohl diese Gesetzmäßigkeit im Prinzip durch Beobachtung bestätigt werden kann, liegt sie nicht offen zutage: »Die Natur der Dinge pflegt sich zu verbergen« (Fragment 123). Heraklit sieht diese Gesetzmäßigkeit als Schlüssel zum Verständnis der Welt an, worin der entsprechende Logos aber genau besteht, wird aus den erhaltenen Fragmenten nicht zweifelsfrei deutlich: »Nicht auf mich, sondern auf den Logos hörend, ist es weise, zuzustimmen, dass alles eines ist« (Fragment 50).
 
Aber was meint Heraklit, wenn er sagt, dass alles eines ist? Vermutlich verweist dieser Satz auf eine Reihe von Fragmenten, die sich mit dem Zusammenhang der auseinander strebenden Kräfte befassen. An einer Reihe von Beobachtungen nämlich weist Heraklit auf, dass das vermeintlich Entgegengesetzte auf unterschiedliche Weise zusammenhängt: »Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sattheit, Mühe Ruhe« (Fragment 111); Gegensätzliches kann ineinander umschlagen: »Das Kalte erwärmt sich, Warmes kühlt sich, Feuchtes trochnet sich, Dürres netzt sich« (Fragment 126), und erst die Entgegensetzungen zusammen machen ein Ganzes aus: »Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht, eine rückgespannte Harmonie, wie vom Bogen und der Leier« (Fragment 51); sie können auch zugleich im selben Gegenstand anwesend sein: »Der Walkerschraube Weg ist grad und krumm« (Fragment 59), oder die augenfällige Entgegensetzung erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine Frage des Standpunktes, denn: »Der Weg hinauf und hinab ist derselbe« (Fragment 60).
 
Das allgemeine Gesetz der Wirklichkeit, das Heraklit aus solchen Fällen erschließt, besagt offenbar, dass das vermeintlich »Auseinanderstrebende zusammenstimmt« (Fragment 8) und so in Wirklichkeit eine Einheit oder Harmonie bildet. Wahrscheinlich gehören auch die »Flussfragmente«, die von der paradox anmutenden Spannung zwischen der unablässigen Bewegung des Wassers und zugleich der Identität des Flusses leben, in diesen Zusammenhang: »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und andere Wasser zu.« In physikalisch-kosmologischer Hinsicht beschreibt Heraklit die Ordnung der Wirklichkeit, als ein ewiges, vernünftiges Feuer, das »nach Maßen entflammt und nach Maßen erlischt« (Fragment 30); indem sich das Feuer nach bestimmten Proportionen mischt, entstehen die Grundstoffe.
 
Mit Parmenides setzt sich vom süditalischen Teil Großgriechenlands ausgehend eine ganze neue Art des philosophischen Denkens durch. Lehrer des Parmenides könnte Xenophanes von Kolophon gewesen sein. Xenophanes machte sich über die Götter Gedanken und meinte, dass man über sie nie sicheres Wissen erlangen könne. Er kritisierte daher die den Menschen nachgebildeten, anthropomorphen Gottesvorstellungen seiner Zeitgenossen: »Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und blond« (Fragment 16). Für Xenophanes dagegen ist Gott »als einziger unter Göttern und Menschen der größte«, er ist »weder an Gestalt noch an Einsicht den Menschen ähnlich« (B23); er »lenkt ohne Mühe alles mit seinem Denken« (B25).
 
Parmenides ist der Verfasser eines Lehrgedichts, von dem etwa 150 Hexameterverse überliefert sind. Das Proömium - die Einleitung - dieses Lehrgedichts beschreibt bildreich eine Wagenfahrt: der Dichter verlässt das »Haus der Nacht« und reist dem Lichte zu, er wird von der Göttin empfangen, die ihm die Wahrheit offenbart. Es folgt nun das Lehrgedicht, das als Offenbarungsrede der Göttin gestaltet ist. Im ersten Teil löst sie ihr Versprechen ein, die Wahrheit mitzuteilen, der zweite Teil gibt die Meinungen der Sterblichen über die Entstehung des Kosmos wieder; in diesen Meinungen liegt aber keine Gewissheit, sie sind durch Erfahrung erworben und können als solche bestenfalls vorläufig und wahrscheinlich sein. Im ersten Teil des Lehrgedichts entwickelt Parmenides jedoch eine These, die für den weiteren Fortgang der frühgriechischen Philosophie von wegweisender Bedeutung sein wird.
 
Parmenides geht von der Feststellung aus, dass sich »sein« und »nicht sein« strikt ausschließen: entweder »ist« oder »ist nicht«, aber nicht beides. Die entsprechende Intuition kennen wir aus dem Satz vom Widerspruch; während wir jedoch damit nur behaupten, dass ein bestimmter Satz oder Gedanke im selben Zusammenhang nicht sinnvollerweise zugleich behauptet und bestritten werden kann, geht es Parmenides darum, dass sich »ist« und »ist nicht« prinzipiell ausschließen. Er meint, man müsse sich für das eine oder das andere - für das »ist« oder das »ist nicht« - grundsätzlich entscheiden wie an einer Weggabelung für einen der beiden Wege. Er spricht daher von zwei Wegen der Forschung oder Untersuchung. Wem nun »ist« und »ist nicht« als dasselbe gilt, etwa in dem Sinn, dass er von etwas, das ist, zugleich sagt, es sei nicht, der bleibt hinter der Grundintention des Parmenides zurück (er erkennt noch nicht einmal die Weggabelung als solche) und begeht einen logischen Widerspruch. Aber auch der Weg des »ist nicht« ist auszuschließen. Parmenides sagt, das sei ein Weg, von dem keine Kunde komme, denn was nicht sei, könne weder erkannt oder gedacht noch gesagt werden. Das ist ein Argument, das wir heute so nicht ohne weiteres akzeptieren würden; denn wir können denken und sagen, dass etwas nicht der Fall ist. Parmenides dagegen scheint in Analogie zur Wahrnehmung angenommen zu haben, dass jedes Denken oder Sagen direkt auf ein Objekt gerichtet sein muss, das Nicht-Seiende jedoch gerade kein Objekt ist, weswegen Denken und Sagen des Nicht-Seienden ausgeschlossen ist, kurz gesagt: »Denken = etwas denken = Seiendes denken; daher: Nicht-Seiendes denken = nicht etwas denken = nichts denken = überhaupt nicht denken«.
 
Das, was ist, kann vor allem weder entstanden noch vergänglich sein, denn was entstanden ist, müsste aus Nicht-Seiendem zu Seiendem geworden sein. Außerdem zeigt Parmenides, dass das Seiende ganz und homogen, unbeweglich, unteilbar, ohne Ende, ohne Vergangenheit und Zukunft, eines, kontinuierlich und einer wohlgerundeten Kugel gleich sein muss. Man kann alle diese Merkmale des Seienden als Ergebnis des Versuchs ansehen, das Seiende als »ganz und gar seiend« - also unter völligem Ausschluss des Nicht-Seienden - zu denken. Es wird nun klar, warum Parmenides zufolge die Meinungen der Menschen über die Welt nicht wahr sein können: Sie gehen davon aus, dass es Entstehung, Vielheit und Bewegung des Seienden gibt, was die vernünftige Überlegung jedoch als unmöglich erwiesen hat.
 
Die Nachfolger des Parmenides waren vor allem davon beeindruckt, dass das Seiende unentstanden, unbeweglich und eines sein soll. Unmittelbar an die Parmenideische Lehre knüpften die Eleaten Zenon von Elea und Melissos von Samos an.
 
Das wohl eindrucksvollste System der jüngeren Naturphilosophie geht auf die Atomisten Leukipp und Demokrit aus Abdera zurück. Leukipp soll als erster eine Atomtheorie vertreten haben, die dann von Demokrit ausgearbeitet wurde, jedoch weiß man von Leukipp selbst so gut wie nichts. Zur Widerlegung der Vielheit hatte der Eleat Melissos behauptet, wenn es Vieles geben würde, dann müsste es genau so beschaffen sein wie das Eine. Vermutlich geht der antike Atomismus auf den Versuch zurück, genau dies ernst zu nehmen und unendlich viele kleine Teilchen - Atome - anzusetzen, von denen jedes für sich die Merkmale des einen Seienden bei Parmenides erfüllt, nämlich unentstanden, unvergänglich und unveränderlich zu sein. Im Einzelnen lässt sich die atomistische Lehre folgendermaßen skizzieren: Das Leere ist das Nichtseiende. Vom Seienden ist nichts nichtseiend, denn das eigentlich Seiende ist das ganz und gar Volle (nämlich ganz und gar »seiend«). Das Volle ist nicht ein einziges, sondern unendlich vieles. Die unendlich vielen »Massen« sind unsichtbar wegen ihrer Kleinheit. Sie bewegen sich im Leeren. Weil diese Massen »voll von Seiendem«, also massiv, sind, sind sie unteilbar (»atomon«; daher kommt der Begriff des Atoms). Sie unterscheiden sich nach Form, Größe, Lage und nach Anordnung relativ zu anderen Atomen. Atome, die aufgrund ihrer Gestalt zusammenpassen, bleiben für eine bestimmte Zeit zusammen und trennen sich wieder, wodurch die für uns wahrnehmbaren Gegenstände entstehen oder vergehen. Ein wirkliches Entstehen oder Vergehen gibt es aber auch für die Atomisten nicht, da ja die eigentlichen Substanzen der Welt, die Atome, erhalten bleiben.
 
Dr. Christof Rapp
 
 
Rapp, Christof: Die Vorsokratiker. München 1997.
 Ricken, Friedo: Philosophie der Antike. Stuttgart u. a. 21993.
 
Die Philosophie der Antike, Band 1: Röd, Wolfgang: Von Thales bis Demokrit. München 21988.

Universal-Lexikon. 2012.

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